Am Anfang war die Vision – Nikolaus Hein

Ein Artikel von Nikolaus Hein
erschienen in der Fachzeitschrift „Das andere Theater“ (offizielle Zeitschrift der UNIMA Deutschland, Union Internationale de la Marionnette)

Nach langjährigem Sammeln, Recherchieren und Vorbereiten gründete ich 1986 das Mobile Puppentheater-Museum Berlin. Ein Museum ohne Haus. Ein reisendes Museum mit freien Mitarbeitern. Ein Museum, das dort Ausstellungen realisierte, wo die Auseinandersetzung mit Puppen- und Figurentheater stattfand. Puppenspielwochen, Fachtagungen und Festivals waren zumeist die Anlässe. Der ersten umfangreichen Ausstellung 1987 in der Kommunalen Galerie Berlin folgten verschiedene themenorientierte Ausstellungsprojekte anlässlich der Jahreshauptversammlungen des „Verband Deutsche Puppentheater e.V.“. in Marl, Schwabach, Göttingen… .

Mobile Ausstellungsprojekte führten uns bis nach Helsinki. Wir reisten mit dem LKW, mit Glasscheiben, Vitrinen, Stellwänden und allem ausstellungstechnischen Zubehör. Auf die Rahmenprogramme und museumspädagogischen Angebote der jeweiligen Ausstellungsorte hatten wir leider nur selten Einfluss. Doch meine Vision war, mittelfristig in einem stationären Museum die eigenen Vorstellungen zu realisieren, Themen, die Figuren und Inszenierung anbieten, aufzugreifen, in Führungen zu vertiefen und zu erweitern, auf Fragen der Besucher einzugehen und selber Fragen zu stellen, Führungen wie Improvisationstheater im besten Sinne anzubieten, einen lebendigen Ort rund um das Puppen- und Figurentheater zu schaffen. Zugegeben, die Verwirklichung war ein Abenteuer, auch finanziell, und sie ist es auch heute noch.

Am 21. März 1995 eröffneten der Kultursenator von Berlin, Herr Roloff-Momin und der Kulturstadtrat von Berlin-Neukölln, Herr Schimmang das stationäre Puppentheater-Museum in Berlin. Ein neuer Anfang! Das Arbeitsamt bewilligte ABM und SAM-Stellen. Zum Glück! Dadurch ergaben sich neue Möglichkeiten. Viele davon haben wir verwirklicht.

Das Museum ist heute ein Erlebnisort für Kinder, Jugendliche und Erwachsene – ein Ort auch der Kommunikation. In jährlich, bzw. auch halbjährlich wechselnden Ausstellungen auf zwei Etagen des Museums werden täglich dem Alter und den Interessen der Besuchergruppen entsprechende Führungen zu verschiedenen Themen angeboten.

Für Kinder sind es Führungen mit spielerischen Aktionen und viel Bewegung. Häufig machen junge Besucher bei uns ihre ersten Museumserfahrungen. Sie entdecken in der Ausstellung die für sie erfassbaren Themen. Dabei wird nicht nur Wissen erweitert, sondern auch animiert, Figuren auszuprobieren, Spaß zu haben, zu verstehen. Sie erleben in einem Papiertheater den König, der Spaghetti kochen möchte. Wie gut, dass die Kinder ihm hierbei helfen können. Sie erfahren dabei auch die Funktion dieser Familientheater früherer Zeiten. Die Marionette Pinocchio erklärt sich selbst. Sie stellt ihre Fäden vor, deren Funktion und ihre Beweglichkeit. Als Vorturner hält sie die Kinder einige Minuten in Bewegung. Eine Fitnesseinlage der besonderen Art.

In der Ausstellung werden die Hexen gezählt, und sie werden zum Thema je nach dem Alter der Kinder, zum Beispiel in der Führung für Zehnjährige „Hexen in der Fantasie und in der Realität, 90 Minuten zum Thema Toleranz“. Die Kinder finden das Gute und das Böse in den einzelnen Figuren, in den einzelnen Geschichten und in sich selbst. Es faszinieren sie der spielerische Umgang mit Geschichte und Geschichten sowie die Entdeckung der eigenen Kreativität. Die Ausstellungen werden zur Basis für Kommunikation. Offenheit und Flexibilität im Umgang mit unseren Besuchern ist uns eine Herausforderung.
Um sozial schwächere Gruppen nicht von den Führungen auszuschließen, berechnen wir hierfür keine Gebühr.

Ein besonderes Highlight sind unsere Taschenlampenführungen für Besucher ab 8 Jahren mit „starken Nerven“. Dabei erleben die Gäste in der verdunkelten Ausstellung die Puppen und Figuren im Schein einer einzigen Taschenlampe. Das focusierte Licht verstärkt die Konzentration auf das Detail. Die besondere Situation schafft eine „knistrige“ Stimmung mit intensiver Theateratmosphäre. 1996 entwickelten wir die Taschenlampenführung – und heute stehen sie in den Veranstaltungsprogrammen vieler Museen.

In der Führung „Ein Blick hinter die Kulissen“ haben die Teilnehmer Gelegenheit, unterschiedliche Spieltechniken selbst auszuprobieren. Puppenbau, Puppenspiel und Bühnenbau sind die Themen, die je nach Interessenlage der Besuchergruppen behandelt werden können, soweit dies in 90 Minuten möglich ist. Nicht selten mündet diese Führung in einen Workshop zu einem dieser Schwerpunkte.

Dieses Angebot wird häufig von Theater-AGs im schulischen Bereich oder auch von Studenten der Sozialpädagogik im Hinblick auf ihre spätere Berufspraxis genutzt. Das Kursangebot reicht von der Technik des Papiertheaters, der Handpuppe, bis zur Großfigur.

In Kooperationsprojekten mit Berliner Schulen wurden bisher zum Thema Mittelalter, zum Thema Puppen und Ballet sowie zur Verbildlichung der Musik „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgsky Puppen gebaut, Szenen geschrieben und vor Publikum aufgeführt. Immer wieder sind Schüler überrascht über ihre eigenen Fähigkeiten und ihre Kreativität. Im Zuge einer verstärkten Förderung von Ganztagsschulen in Berlin besteht hier eine zunehmende Nachfrage. Mit jugendlichen und erwachsenen Kursteilnehmern wurden überlebensgroße Figuren hergestellt und bei Berlins größtem Straßenumzug, dem „Karneval der Kulturen“ eingesetzt.

Etwa 35% unserer Besucher sind Erwachsene, Besuchergruppen aller Bildungsschichten. Studenten, Touristen, Senioren, Deutsch lernende Ausländer vom Goethe-Institut und auch geistig behinderte Menschen. In der Zusammenarbeit mit „Lernmobil“, der Bildungsstätte für geistig und psychisch behinderte Erwachsene in Berlin, entstand das Kursangebot „Theater, Geschichten und Gedächtnistraining“, ein spielerisches Training für Gedächtnis und Kreativität. In diesem Kurs arbeiten wir mit Puppen und Geschichten über einen längeren Zeitraum intensiv mit sechs Teilnehmern.

Für angehende Spielleiter führen wir seit einigen Jahren Wochenendseminare durch. Studenten dieser Ausbildung haben wir in der Regel zweimal im Jahr bei uns zu Gast.

Glückliche Umstände erlaubten nach und nach eine Erweiterung des Museums.
Inzwischen befindet sich ein Theaterraum mit 75 Plätzen in der dritten Etage. Hier finden fast täglich Aufführungen statt, Vorstellungen des zum Museum gehörenden „ateliertheater mit puppen und masken“, aber auch Gastspiele verschiedener Berliner – und auswärtiger Figurentheater, ebenso regelmäßige Lesungen von Schauspielern und Autoren.

Die Erzählprogramme und Workshops der „Märcheninitiative Sesam“ für Kinder und Erwachsene sind seit der Museumsgründung ein fester Bestandteil des Programms.

Auch um zusätzliche Büro- und Lagerräume konnte das Museum erweitert werden. Zurzeit arbeiten im Puppentheater-Museum neben mir noch weitere acht angestellte Mitarbeiter in den Bereichen Museumspädagogik, Büro, Öffentlichkeitsarbeit, Technik, Ausstellungsbau, Restaurierung und Inventarisierung. 17.236 Exponate konnten bisher inventarisiert werden. Die Inventarisierung umfasst Theaterfiguren, Bühnenbilder, Spieltexte, Fachliteratur, Plakate und bildliche Darstellungen zum Thema Puppentheater. Letztere beinhalten Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Stiche und Radierungen aus fünf Jahrhunderten.

1993 veröffentlichten wir anlässlich der Ausstellungen „Puppentheater, Motiv in der Malerei und Grafik“ in der gleichnamigen Grafikmappe eine kleine Auswahl. Unsere Inventarisierungsarbeit der Bestände ist bei weitem noch nicht abgeschlossen, durch Neuerwerbungen wächst die Sammlung auch weiterhin. Bei der jüngsten Neuerwerbung im Jahr 2006 handelt es sich um den Figurenfundus von über 200 Figuren des Berliner Schattentheaters „Figurenzirkel“. Berlin ist einer der Sammlungsschwerpunkte des Museums. Neben der vielfältigen Museumsarbeit im eigenen Haus realisieren wir auch weiterhin mobile Ausstellungsprojekte.

Im Jahr 2005 feierten wir mit unseren Gästen das zehnjährige Jubiläum. Ein Jubelprogramm mit 28 Veranstaltungen über einen Zeitraum von einem Jahr. 10 Jahre im „eigenen“ Haus. Das für die Besucher zumeist kostenlose Festprogramm setzte sich aus unterschiedlichen Programmangeboten für Kinder und Erwachsene zusammen: einer Märchenrallye, Kindernachmittagen, einer Ausstellung im Museum Falkensee, Märchenerzählungen, Theateraufführungen, Taschenlampenführungen, einem Puppenbau-Workshop, Lesungen, einem Sommerfest, den ersten Neuköllner-Figurentheatertagen, einer Ausstellung im Historischen Museum Stralsund sowie der Ausstellung „Kunstvolle Theaterplakate deutscher Figurentheater“ und der Ausstellung „Märchenfantasien in Formen und Farben“ im Schillerpalais Berlin.

Bis zum 17. Juli zeigen wir die Ausstellung „Urmel und andere Stars der Augsburger Puppenkiste“, eine Fotodokumentation und Marionetten aus insgesamt elf Fernsehinszenierungen von 1954 bis 2001, sowie die Figuren aus dem Kinofilm „Monty Spinnerratz“. Anlässlich dieser Ausstellung haben wir ein Museumskino eingerichtet und zeigen auf einer Großleinwand Urmel, Professor Habakuk Tibatong und andere „Fernsehhelden“ in Bewegung.

In der Zusammenarbeit mit Michael Meschke entstand das Konzept für die Ausstellung „Grenzüberschreitungen, 100 Gesichter des Puppenspielers Michael Meschke“ (Stockholm/Schweden). Im Anschluss ging diese Ausstellung nach Patras/Griechenland, der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas.

Bis hier hin haben meine Mitarbeiter und ich ambitioniert und engagiert Museumsarbeit geleistet. Über die langfristige Perspektive des Museums gilt es nachzudenken und Weichen zu stellen.

Nikolaus Hein, Gründer und ehemaliger Direktor des Puppentheater Museums in Berlin ist im Aug. 2018 verstorben. Einen Nachruf auf ihn und sein Wirken finden sie in der Online-version des Berliner Tagesspiegel hier.

Jetzt Spenden! Das Spendenformular wird von betterplace.org bereit gestellt.